Einführung zu Talmud Esser HaSefirot, Punkt 91 – 100

91. Damit klärt sich die Frage, die wir stellten: derjenige, der des dritten Stadiums der Lenkung, das heißt der Lenkung durch Lohn und Strafe würdig wird, wenn schon der Geheimnisse Wissende von ihm bezeugt, dass er nicht mehr zu seiner Torheit zurückkehren wird, wird er dennoch als ein „unvollkommener Gerechter“ bezeichnet. Nun ist vollkommen klar, dass es ihm im Endeffekt an „einem Gebot“ mangelt, nämlich am Gebot der Liebe. Er ist natürlich unvollkommen – denn er muss unbedingt 613 Gebote erfüllen, die unvermeidlich den ersten Schritt auf die Schwelle der Perfektion darstellen.

92. Aus allem oben Gesagten werden wir verstehen, was die Weisen erfragten: wie verpflichtete uns die Torah zum Gebot der Liebe, wenn es doch überhaupt nicht in unserer Macht steht, uns mit diesem Gebot zu beschäftigen oder es irgendwie zu berühren? Nun wirst du verstehen, dass uns davor die Weisen warnten: „Ich habe mich angestrengt und nicht gefunden – sollst du nicht glauben“. Und auch „Immer sollte sich der Mensch mit der Torah und den Mizwot Lo Lishma beschäftigen, denn aus Lo Lishma kommt Lishma“ (Psachim 59). Und auch zeugen die Worte davon: „Diejenigen, die Mich suchen, werden Mich finden“ (Mischlej 8).

93. Dies sind die Worte unserer Weisen (Megilah 6): “Rabbi Izhak sagte: wenn jemand dir sagte: „Ich bemühte mich und fand nicht“, so glaube das nicht. „Ich bemühte mich nicht und fand“- glaube nicht. „Ich bemühte mich und fand“- dies glaube.“

Wir hinterfragten aber den Ausdruck: “Ich bemühte mich und fand – sollst du glauben”, denn auf den ersten Blick widerspricht sich dies. Denn die Bemühung weist auf Erwerb hin, und Fund – auf etwas, was zum Menschen ohne jegliche Sorge und unerwartet kommt. Daher sollte es heißen: „Ich bemühte mich und bekam“.

Wisse aber, dass mit dem „Fund“, von dem hier die Rede ist, der folgende Ausdruck gemeint ist: „Diejenigen die Mich suchen, werden Mich finden“. Gemeint ist das Finden des Angesichts des Schöpfers entsprechend den Worten des Buches Sohar davon, dass man den Schöpfer nur in der Torah findet. Das heißt mittels der Bemühungen in der Torah werden wir dessen gewürdigt, das offenbarte Angesicht des Schöpfers zu finden. Daher waren die Weisen in ihren Worten präzise, als sie sagten: „Ich bemühte mich und fand – sollst du glauben“. Denn die Bemühungen werden in der Torah unternommen, und der Fund besteht in der Offenbarung des Angesichts der Lenkung durch den Schöpfer.

Absichtlich sagten die Weisen nicht: „Ich bemühte mich und wurde gewürdigt“ oder „Ich bemühte mich und erwarb“. Denn dann könnten wir uns diesbezüglich irren und beschließen, dass der Erhalt oder Erwerb die Erlangung der Torah allein meint. Daher waren sie im Ausdruck „fand“ präzise, um darauf hinzuweisen, dass etwas über die Erlangung der Torah hinaus gemeint ist, das heißt das Finden des offenbarten Angesichts der Lenkung durch den Schöpfer.

94. Das erklärt uns den Vers: „Ich bemühte mich nicht und fand – sollst du nicht glauben. Denn auf den ersten Blick erscheint das merkwürdig: wem könnte in den Sinn kommen, dass man die Torah erwerben kann, ohne für sie zu arbeiten. Diese Worte beziehen sich aber auf den Vers: „Diejenigen die Mich suchen, werden Mich finden“ (Sprüche 8:17). Das bedeutet, dass jeder Mensch der Ihn sucht – von klein bis groß – Ihn sofort findet. Darauf weist der Ausdruck „Diejenigen die Mich suchen“ hin. Denn man könnte sich denken, dass hier keine besonderen Anstrengungen nötig wären, und sogar ein kleiner Mensch, der nicht bereit wäre, dazu irgendwelche Anstrengungen zu unternehmen, ebenfalls den Schöpfer finden würde. Davor warnten uns die Weisen, damit wir nicht einer solchen Deutung trauen würden, sondern hier ist die Anstrengung unbedingt notwendig, und „ich bemühte mich nicht und fand – sollst du nicht glauben“.

95. Nun verstehst du, warum Torah „Leben“ genannt wird. Wie es heißt: „Siehe, ich habe dir heute das Leben und das Gute vorgelegt“ (Deuteronomium 30;15). Und auch: „Wähle das Leben“. Und auch: „Denn sie ist das Leben denen, die sie finden“ (Sprüche 4:22). Das entspringt dem Vers: „Im Lichte des Angesichts des Königs ist das Leben“ (Sprüche 16), denn der Schöpfer ist die Quelle von allem Leben und allem Wohl.

Daher zieht sich das Leben zu denjenigen Zweigen, die mit ihrer Quelle verschmelzen. Die Rede ist von denjenigen Menschen, die Anstrengungen unternahmen und das Licht des Angesichts des Schöpfers in der Torah fanden, das heißt sie wurden durch herrliche Erkenntnis der Einsicht in die Torah würdig. Im Endeffekt wurden sie mit der Offenbarung des Angesichts beehrt, welche die Erkenntnis der wahren Lenkung bedeutet, die des Namens des Schöpfers „dem Guten“ würdig ist, denn dem Guten gebührt es, Gutes zu tun.

96. Diejenigen, denen das bereits gegönnt wurde, können sicht nicht mehr vom korrekten Ausführen der Mizwa zurückziehen, gleich einem Menschen, der nicht fähig ist, sich von einem wunderbaren Genuss zurückzuziehen, welcher in seine Hände fällt. Von einem Verstoß laufen sie dagegen weg wie von einem Feuer. Über sie heißt es: „Ihr aber, die ihr mit eurem Schöpfer verschmolzen seid, ihr seid heute alle am Leben“. Denn die Liebe des Schöpfers kommt zu ihnen und wird ihnen gegeben als natürliche Liebe entlang natürlicher Kanäle, die dem Menschen von der Natur der Schöpfung bereitet wurden. Und nun ist der Zweig mit seiner Wurzel verschmolzen wie es sich gehört, und das Leben fließt in ihn unaufhörlich aus seiner Quelle in großer Fülle. Daher wird die Torah „Leben“ genannt.

97. Daher warnten uns die Weisen vielerorts bezüglich der notwendigen Bedingung im Studium der Torah: dass dieses Studium eben Lishma sein möge. Das heißt dass es so sein würde, dass einem dank der Torah Leben gegönnt würde, denn es ist doch die Torah des Lebens. Zu diesem Zweck wurde sie uns gegeben, wie es heißt: „Und du sollst das Leben wählen“. Deswegen ist jeder Mensch verpflichtet, während seines Studiums der Torah in ihr Anstrengungen zu unternehmen, und den Verstand und das Herz darauf einzustellen, in ihr das Licht des „Angesichts des Königs des Lebens“ zu finden. Gemeint ist die Erkenntnis der offensichtlichen Lenkung, genannt „Licht des Angesichtes“.

Jeder Mensch eignet sich dafür, wie es heißt: „Diejenigen, die Mich suchen, werden Mich finden“, und auch „Bemühte sich und fand nicht – sollst du nicht glauben“. Dazu mangelt es einem Menschen an einer Kleinigkeit: nur an Bemühungen allein. Und darüber heißt es: „Für jeden, der sich mit der Torah Lishma befasst, wird sie zum Lebenselexir“ (Taanit 7:71). Das bedeutet, dass der Mensch lediglich seinen Verstand und sein Herz darauf einstimmen soll, dass ihm Leben gegönnt würde, worin eben der Sinn von Lishma besteht.

98. Nun wirst du verstehen, wie sich die Frage der Ausleger der Mizwa der Liebe klärt. Sie sagten, dass diese Mizwa nicht in unseren Händen liegt, da Liebe nicht mittels Zwang und Unterwerfung kommt. Hier gibt es gar kein Problem, da dies gänzlich in unseren Händen liegt. Denn jeder Mensch kann Anstrengungen in der Torah unternehmen, bis er schließlich die Erkenntnis der offensichtlichen Lenkung des Schöpfers findet, wie es heißt: „Ich bemühte mich und fand – sollst du glauben“.

Und wenn dem Menschen die Ehre der offensichtlichen Lenkung zuteil wird, kommt die Liebe zu ihm bereits automatisch entlang natürlicher Kanäle. Wenn er aber aus irgendeinem erdenklichen Grunde nicht glaubt, dass man diese Ehre durch eigene Bemühungen verdienen kann, dann glaubt er zweifellos nicht den Worten der Weisen und stellt sich vor, dass nicht alle Bemühungen ausreichen. Das widerspricht außerdem dem Ausspruch: „Ich bemühte mich und fand nicht – sollst du nicht glauben“, und auch den Worten: „Diejenigen die Mich suchen werden Mich finden“. Die Weisen sagten ausdrücklich: „Diejenigen die Mich suchen“ – das heißt wer immer sie sein mögen, von klein bis groß. Dem Menschen ist aber natürlich Anstrengung von Nöten.

99. Und aus dem oben geklärten wirst du den Sinn der Worte verstehen: „Für jeden, der sich mit der Torah Lo Lishma beschäftigt, wird sie zu einem tödlichen Gift“ (Taanit 7:71). Es heißt auch: „Wahrlich bist du ein Dich verbergender Gott“ – der Schöpfer verbirgt sich in der Torah. Und wir fragten: leitet der Verstand nicht etwa zum Schluss, der Schöpfer sei eben in den Dingen dieser Welt verborgen, die außerhalb der Torah liegen, und nicht in der Torah selbst, die doch der alleinige Ort der Offenbarung sei? Und wir fragten auch: diese Verhüllung, durch welche sich der Schöpfer verhüllt, damit die Menschen Ihn suchen und Ihn finden – wozu brauche ich sie?

100. Daraus wirst du gut verstehen, dass die Verhüllung, durch welche sich der Schöpfer verhüllt, damit die Menschen Ihn begehren würden, die Verhüllung des Angesichts meint, bei welcher er mit Seinen Geschöpfen auf zwei Wegen vorgeht: der einfachen Verhüllung und der Verhüllung innerhalb der Verhüllung.

Der Sohar sagt uns: niemandem soll auch nur der Gedanke kommen, der Schöpfer wünsche es, auf einem solchen Stadium der Lenkung zu verharren, wenn Sein Angesicht von Geschöpfen verhüllt ist. Im Gegenteil gleicht das einem Menschen, der sich absichtlich verbirgt, damit sein Freund ihn suchen und finden würde.

So auch der Schöpfer. Wenn er mit Seinen Geschöpfen auf diese Weise vorgeht und in der Verhüllung des Angesichts verharrt, so besteht der Grund dafür nur darin, dass Er will, dass die Geschöpfe die Offenbarung Seines Angesichts begehren und Ihn finden würden. Denn die Geschöpfe hätten keinen Weg und Zutritt dazu, dass ihnen das Licht des Angesichts des Königs des Lebens zuteil würde, wenn der Schöpfer mit ihnen nicht zu Beginn anders verfahren würde, nämlich in der Verhüllung des Angesichts verharrend. Also ist die ganze Verhüllung lediglich eine Vorbereitung auf die Offenbarung des Angesichts.