Einführung zu Talmud Esser HaSefirot, Punkt 111 – 120

111. Auf den ersten Blick sind diese Worte von Anfang bis Ende kompliziert. Denn er sagt, dass ein Mensch, der eine Mizwa ausführt, die Waagschale unmittelbar dem Verdienst zuneigt, weil nach der Mehrheit gerichtet wird. Bezieht sich das etwa nicht nur auf diejenigen, die halb schuldig und halb im recht sind? Davon spricht Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon, überhaupt nicht. Somit bleibt das Wichtigste unklar. Raschi deutete seine Worte als sich auf den Vers beziehend: „Der Mensch soll sich immer so betrachten, als wäre er halb schuldig, und halb im Recht“. Und Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon, fügt hinzu, dass der Mensch auch die ganze Welt so betrachten solle, als wären alle halb schuldig und halb gerecht. Das Wichtigste bleibt jedoch unklar. Und wozu veränderte er seine Worte, wenn der Sinn derselbe bleibt?

112. Die größte Schwierigkeit ist im Wesen der Sache selbst eingeschlossen, das heißt darin, dass der Mensch sich so betrachten solle, als wäre er nur zur Hälfte schuldig. Das ist verwundernd, denn wenn der Mensch seine zahlreichen Sünden kennt, wie kann er dann lügen und sagen, dass er in Hälften geteilt sei? Sagte die Torah nicht etwa: „Entferne dich von der Lüge“? Und auch heißt es doch: „Ein Sünder wird viel Gutes vernichten“. Das heißt wegen einer Sünde neigt er sich selbst und die ganze Welt dem Schuldspruch zu. Denn die Rede ist von der wahren Realität und nicht von irgendeiner trügerischen Illusion, als deren Teil der Mensch sich selbst und die ganze Welt einbilden soll.

113. Auch ist unklar, ob es denn möglich sei, dass es in jeder Generation nicht viele Individuen gäbe, die eine Mizwa erfüllen würden? Und wie neigt sich die Welt dann dem Freispruch zu? Läuft es darauf hinaus, dass sich der Zustand gar nicht verändert und die Welt so funktioniert, wie sie in Funktion gesetzt wurde? Hier ist eine zusätzliche Tiefe erforderlich, weil man diese Worte durch den oberflächlichen Blick nicht verstehen kann.

Die Rede ist überhaupt nicht von einem Menschen, der weiß, dass seine Sünden zahlreich sind. Man braucht ihm nicht die Lüge einzuprägen, dass er 2geteilt sei, und ihn damit verführen, dass es ihm nur an einem Gebot mangeln würde. Eine solche Herangehensweise gehört überhaupt nicht zum Weg der Weisen. Die Rede ist dagegen von einem Menschen, der sich wie ein vollkommen Gerechter fühlt und vorstellt, und glaubt, in vollkommener Perfektion zu verweilen. Das kommt daher, dass ihm bereits die Ehre der ersten Stufe der Liebe mittels der Einsicht in die Torah zuteil wurde, wenn Derjenige, der die Geheimnisse kennt von ihm bezeugt, dass er nicht mehr zu seiner Thorheit zurückkehren würde.

Von einem solchen Menschen handeln die oben angeführten Worte. Sie klären für ihn den Weg und beweisen ihm, dass er noch immer kein Gerechter, sondern ein Bejnoni (Mittlerer) ist, das heißt halb schuldig und halb freigesprochen. Das, weil es ihm noch an „einer Mizwa“ von den 613 Mizwot der Torah mangelt – der Mizwa der Liebe. Denn das Zeugnis Desjenigen, der die Geheimnisse kennt, dass er nicht mehr sündigen wird, gründet sich nur auf der Klarheit, mit welcher der Mensch den großen Verlust durch einen Verstoß erkennt. Das wird als Ehrfurcht vor einer Bestrafung betrachtet und daher als „Reue aus Furcht“ bezeichnet.

114. Oben klärte sich auch, dass diese Stufe der Reue aus Furcht den Menschen nur ab dem Moment der Reue und weiter korrigiert. All jene Leiden und Pein aber, die er ertrug, bevor ihm die Ehre der Offenbarung des Angesichts zuteil wurde, bleiben wie sie waren, ohne jegliche Korrektur. Die vom Menschen begangenen Verstöße sind ebenfalls nicht komplett korrigiert, sondern verbleiben in der Kategorie der Unachtsamkeitsverstöße.

115. Daher heißt es, dass ein Mensch, dem es immer noch an “einer Mizwa” mangelt, sich so sehen solle, als wäre er zur Hälfte schuldig und zur Hälfte freigesprochen. Das heißt er solle sich vorstellen, dass die Zeit der Reue in der Mitte seiner Jahre läge und er damit „zur Hälfte schuldig“ sei. Anders gesprochen ist der Mensch für die Hälfte der Jahre, die er vor der Reue gelebt hatte, natürlich schuldig, weil die Reue aus Furcht diese Jahre nicht korrigiert.

Folglich ist er auch „zur Hälfte freigesprochen“. Das heißt für die Hälfte der Jahre ab dem Moment der Reue ist der Mensch natürlich freigesprochen, weil er sich dessen sicher ist, dass er nicht wieder sündigen wird. Somit ist er in der ersten Hälfte seiner Jahre schuldig, und in der zweiten Hälfte freigesprochen.

116. Dem Menschen wurde gesagt, so von sich zu denken: Wenn er „eine Mizwa“ erfüllt, das heißt diejenige Mizwa, an welcher es ihm aus der Zahl von 613 mangelt, sollte er glücklich sein, weil er sich selbst dem Freispruch zuneigte. Denn derjenige, der Dank der Reue aus Liebe der Mizwa der Liebe gewürdigt wurde, verdient dadurch, dass sich seine böswilligen Verstöße für ihn in Verdienste verwandeln. Dann verwandeln sich jedes Leid und jede Sorge, die der Mensch in seinem Leben erlitt bevor er der Reue gewürdigt wurde, in unendlich herrliche Genüsse für ihn; soweit, dass er selbst bereut, an ihnen nicht um vieles mehr gelitten zu haben. Wie im Gleichnis von dem Herren und dem ihn liebenden Juden. Das wird eben als „Neigung zum Freispruch“ bezeichnet. Denn alle Empfindungen des Menschen, die mit Unachtsamkeitsverstößen und böswillig begangenen Verstößen zu tun hatten, verwandelten sich für ihn in „Verdienste“. Das ist die Neigung zur „Waagschale des Freispruchs“, denn eine Waagschale voller Schuld verwandelte sich in eine Waagschale voller Verdienste. Diese Verwandlung wird in der Sprache der Weisen als „Neigung“ bezeichnet.

117. Außerdem warnt Rav den Menschen, dass, solange er ein Mittlerer ist und nicht „einer Mizwa“ gewürdigt wurde, an welcher es ihm aus der Zahl von 613 mangelt, er sich selbst bis zum Tag seines Todes nicht trauen solle. Er soll sich auch nicht auf der Grundlage des Zeugnisses von Demjenigen, Der die Geheimnis kennt, darauf verlassen, dass er nicht mehr zu seiner Thorheit zurückkehren würde. Denn der Mensch ist noch immer dazu fähig, einen Verstoß zu begehen. Er sollte von sich denken, dass er sich dem Schuldspruch zugeneigt, sobald er einen Verstoß begeht.

Denn dadurch wird sofort seine ganze herrliche Erkenntnis in der Torah und die Offenbarung des Angesichtes, welcher er gewürdigt wurde, verloren sein; und er wird zum Stadium der Verhüllung des Angesichtes zurückkehren. In der Folge wird sich der Mensch dem Schuldspruch zuneigen, da alle seine Verdienste und sein Segen verloren gegangen sind, auch für die zweite Hälfte seiner Jahre. Als Beweis dafür führt ihm Rav die Worte an: „Ein Sünder wird viel Gutes zerstören“.

118. Nun wirst du verstehen, was Rabbi Elazar, Sohn des Rabbi Shimon, ergänzte und warum er nicht die Wendung “halb schuld und halb gereinigt” anführte. Dies deshalb, weil darin von dem zweiten und dritten Stadien der Liebe gesprochen wird, während Rabbi Elazar vom vierten Stadium der Liebe spricht, also von der ewigen Liebe, das heißt von der Offenbarung des Angesichts des Schöpfers, wie Er wirklich ist: Gütig und Guten und Schlechten Gutes bescherend.

119. Auf diese Weise hat sich geklärt, dass der Mensch nur dann des vierten Stadiums würdig werden kann, wenn er ausnahmslos jedes Verhalten seines Geliebten in seiner Beziehung zu allen anderen kennt. Aus dem gleichen Grund reicht ihm der große Verdienst darin, dass er sich der Seite des Freispruchs zuneigte, noch nicht aus, um der vollkommenen Liebe und damit des vierten Stadiums würdig zu werden. Denn nun erkennt der Mensch die Rechtschaffenheit des Schöpfers, der Guten Gutes und Schlechten Gutes tut, indem er nur von Seiner Lenkung im Bezug auf sich selbst ausgeht.

Doch er erkennt die ebenso erhabene und wundervolle Vorsehung des Schöpfers hinsichtlich der übrigen Geschöpfe auf der Welt noch immer nicht. Daher lernen wir aus dem vorher Gesagten, dass die Liebe nicht ewig ist, solange man das Verhalten des Geliebten anderen gegenüber nicht vollständig kennt. Der Mensch muss auch die ganze Welt dem Freispruch zuneigen. Nur dann erscheint die ewige Liebe vor ihm.

120. Davon spricht Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon, wenn er sagt: “Die ganze Welt wird anhand der Mehrheit bewertet und der Einzelne wir anhand der Mehrheit bewertet.” Da er von der gesamten Welt spricht, kann er nicht, wie geschrieben steht, sagen, dass der Mensch alle als halb schuldig und halb freigesprochen betrachten solle. Diese Stufe erreicht der Mensch erst, wenn ihm die Enthüllung des Angesichts und die Reue aus Furcht zuerkannt werden.

Wie kann dies von der gesamten Welt behauptet werden, wenn ihnen diese Reue nicht zuerkannt wurde? Daher sagt man nur, dass die Welt anhand der Mehrheit und der Einzelne anhand der Mehrheit beurteilt wird.

Denn man könnte doch denken, dass der Mensch nur dann des Stadiums eines vollkommenen Gerechten würdig wird, wenn er keine Übertritte zu verzeichnen hat und niemals in seinem Leben eine Sünde begangen hat; und diejenigen, die Mißerfolg in Sünden und böswilligen Vergehen hatten, wären nicht mehr des Stadiums vollkommener Gerechter würdig.

Aus diesem Grunde lehrt uns Rabbi Elazar, Sohn des Rabbi Shimon, dass es sich nicht so verhält. Vielmehr wird die Welt an ihrer Mehrheit beurteilt und ebenso das Individuum. Nachdem der Mensch aus Furcht zurückkehrt, wird er sofort der 613 Gebote gewürdigt und als „Mittlerer“ bezeichnet, das heißt für die Hälfte seiner Jahre ist er schuldig, und für die anderen freigesprochen. Und nun, nachdem er aus dem Stadium des Mittleren austritt, wenn er nur ein einziges Gebot hinzufügt, also das Gebot der Liebe, dann gilt, dass er nach der Mehrheit freigesprochen ist und alles dem Freispruch zuneigt. Das heißt die Schale der Verbrechen verwandelt sich ebenfalls in Verdienste.

Wenn der Mensch also sogar eine volle Schale von Sünden und böswilligen Vergehen in seiner Hand hält, verwandeln sie sich alle in Verdienste. Und natürlich gleicht er dann einem Menschen, der niemals gesündigt hat, und gilt als vollkommener Gerechter. Das bedeutet eben, dass die Welt und auch das Individuum anhand der Mehrheit beurteilt werden. Die Verbrechen, die der Mensch vor seiner Reue begangen hatte, werden also überhaupt nicht in Betrachtung gezogen, denn sie verwandelten sich in Verdienste. Selbst vollkommene Sünder, die der Rückkehr aus Liebe würdig wurden, gelten als vollkommene Gerechte.