Einführung zu Talmud Esser HaSefirot, Punkt 101 – 110

101. Daher steht geschrieben, der Schöpfer verhüllt Sich in der Torah. Denn hinsichtlich der Leiden und Torturen, die in der Phase der Verhüllung des Angesichts erfahren werden, unterscheidet sich der Mensch, der gegen die Torah und die Mizwot verstößt und sich wenig mit ihnen beschäftigt von einem, der seine Bemühungen in der Torah und in guten Taten vermehrt. Der Erstere von ihnen ist eher darauf vorbereitet, seinen Herren zu rechtfertigen, das heißt zu beschließen, dass diese Leiden zu ihm aufgrund der Verstöße und des geringen Eifers in der Torah seinerseits kamen.

Dem Zweiteren fällt es dagegen viel schwerer, seinen Herrn zu rechtfertigen, denn nach seinem Verstand hat er solch schwere Bestrafungen nicht verdient. Und mehr als das, er sieht, dass seine Freunde, die schlimmer als er sind, nicht im solchen Maße leiden. Wie es heißt: „Siehe, das sind die Gottlosen; sie sind glücklich in der Welt und werden reich“ (Psalmen, 73:12) und auch: „Soll es denn umsonst sein, dass mein Herz unsträflich lebt und ich meine Hände in Unschuld wasche“ (Psalmen 73:13)

Hieraus wirst du auch sehen, dass solange der Mensch noch nicht mit der Lenkung durch die Offenbarung des Angesichts gewürdigt wurde, ihm die Torah und die Mizwot, in welchen er seine Anstrengungen vermehrte, die Verhüllung des Angesichtes in noch größerem Maße erschweren. Daher heißt es eben auch, der Schöpfer verhüllt sich in der Torah. Und tatsächlich ist jene ganze Schwere, die der Mensch am stärksten mittels der Torah verspürt, nichts anderes als Rufe, durch welche die Torah selbst an ihn appelliert und ihn dazu erweckt, sich so sehr es geht zu beeilen und zu hasten, die von ihm erforderliche Summe an Anstrengungen zu unternehmen, um den Menschen sofort mit der Offenbarung des Angesichts entsprechend dem Willen des Schöpfers zu belohnen.

102. Deswegen heißt es, dass für jeden, der Lo Lishma studiert, die Torah zum tödlichen Gift würde. Denn nicht nur tritt er nicht aus der Verhüllung des Angesichtes in die Offenbarung heraus, weil er seinen Verstand nicht darauf einstellte, Anstrengungen zu unternehmen und dessen würdig zu werden – die Torah, mit welcher er sich viel beschäftigt, fügt ihm noch die Verhüllung des Angesichts in riesigem Maße hinzu, bis der Mensch in die Verhüllung innerhalb der Verhüllung fällt, die der Tod ist, weil er vollkommen von seiner Wurzel losgelöst ist. Also läuft es darauf hinaus, dass die Torah für ihn zu einem tödlichen Gift wird.

103. Das erklärt die zwei Namen, bei welchen die Torah genannt wird: „enthüllt“ und „verhüllt“. Man muss verstehen, wozu wir die verhüllte Torah brauchen? Und warum nicht die ganze Torah enthüllt (offenbart) ist? Hier ist aber eine tiefe innere Absicht vorhanden, da die „verhüllte“ Torah darauf andeutet, dass sich der Schöpfer „in der Torah verhüllt“. Deswegen wird sie als die „verhüllte Torah“ bezeichnet.

„Enthüllt“ oder „offenbart“ wird sie dagegen bezeichnet, weil sich der Schöpfer mittels der Torah offenbart. Daher sagten die Kabbalisten, und das steht auch im Gebetsbuch des Vilner Gaon, dass die Reihenfolge der Erkenntnis der Torah beim Geheimnis beginnt, und beim einfachen Sinn (Pschat) endet. Mit anderen Worten wird dem Menschen, wie es heißt, dank den erforderlichen Mühen, die der Mensch sich zu Beginn in der verhüllten Torah gibt, die Ehre der enthüllten Torah zuteil, die Pschat (der einfache/wörtliche Sinn) ist. Somit beginnt der Mensch beim Verhüllten, welches Sod (Geheimnis) genannt wird, und wenn er gewürdigt wird, endet er beim einfachen Sinn (Pschat).

104. Nun hat sich ausreichend geklärt, wie man die erste Stufe der Liebe verdienen kann, welche die an Bedingungen geknüpfte (abhängige) Liebe darstellt. Jetzt ist uns bekannt, dass obwohl es keine Belohnung für eine Mizwa in dieser Welt gibt, die Erkenntnis der Belohnung für eine Mizwa auch im Leben dieser Welt vorhanden ist. Sie gelangt zum Menschen mittels der Einsicht (Eröffnung der Augen) in die Torah. Diese klare Erkenntnis gleicht für den Menschen vollkommen dem unmittelbaren Erhalt der Belohnung für eine Mizwa.

Deswegen verspürt der Mensch die herrliche Güte des Schöpfers, die im Schöpfungsplan eingeschlossen ist, welche darin besteht, Seine Geschöpfe mit voller, guter und großzügiger Hand mit Genuss zu erfüllen. Wegen des großen Segens, welchen der Mensch erkennt, erscheint zwischen ihm und dem Schöpfer eine herrliche Liebe, die den Menschen ununterbrochen auf den gleichen Wegen und Kanälen beschenkt, auf welchen auch die natürliche Liebe zutage tritt.

105. All das gelangt jedoch zum Menschen von dem Moment seiner Erkenntnis an. Es bleibt aber noch das Stadium der Leiden, die von der Lenkung in der Verhüllung des Angesichtes bedingt waren und die der Mensch erleiden musste, bevor er der erwähnten Offenbarung des Angesichtes  würdig wurde. Und obwohl er sich nicht an sie erinnern möchte, weil „die Liebe alle Verstöße überdeckt“, aber sie gelten natürlich als ein großer Mangel sogar in Hinsicht der Liebe zwischen Menschen und sowieso hinsichtlich der wahren Lenkung des Schöpfers, weil Er gut ist und Schlechten und Guten Gutes tut.

Daher sollte man verstehen, wie der Mensch der Liebe zum Schöpfer in solch einem Maße würdig werden kann, wo er fühlen und wissen wird, dass der Schöpfer ihm immer wunderbare Segen brachte, von dem Moment seiner Geburt an, und ihm in seinem ganzen Leben keinen Gramm Böses tat. Das ist das zweite Stadium der Liebe.

106. Um das zu verstehen brauchen wir die Worte unserer Weisen, die sagten: “Für denjenigen, der eine Reue aus Liebe vollzieht, werden seine Verstöße zu Verdiensten“. Nicht nur vergibt also der Schöpfer dem Menschen seine Sünden, sondern jede von ihm begangene Sünde und jeder Verstoß verwandelt der Schöpfer in eine Mizwa.

107. Der Mensch wird soweit des Lichtes des Angesichts gewürdigt, dass jeder von ihm begangener Verstoß – einschließlich sogar derjenigen von ihnen, die er böswillig beging – sich für ihn in eine Mizwa verwandelt. Dank dieser Tatsache wird er froh und glücklich über alle erlittenen Plagen und bitteren Leiden und die zahlreichen Sorgen, die er in seinem Leben seit der Zeit durchging, als er den zwei Stadien der Verhüllung des Angesichts unterlag. Denn gerade sie brachten ihm all die böswilligen Verstöße, die sich nun aufgrund des wundersam herrlichen Lichtes des Angesichts des Schöpfers für ihn in Mizwot verwandelten.

Und jede Pein oder Sorge, die den Menschen des Verstandes beraubten, als er Misserfolge bei Unachtsamkeitsfehlern in einfacher Verhüllung oder bei böswilligen Verstößen in doppelter Verhüllung erlitt, verwandeln sich für ihn in einen Faktor der Kausalität und einfache Vorbereitung auf die Ausführung der Mizwa und den Erhalt einer großen und herrlichen Belohnung für sie, auf ewig. Daher verwandelt sich für den Menschen jedes Leid in eine große Freude, und jedes Böse in herrliches Heil.

108. Das gleicht einer Geschichte, welche die Menschen von einem Juden erzählen, der ergeben im Hause eines Herren diente, der ihn liebte wie sich selbst. Einmal kam es so, dass der Herr wegfuhr, und seine Geschäfte den Händen eines Vertreters überließ. Und dieser Mensch war ein Hasser Israels.

Also tat er Folgendes: er beschuldigte den Juden und schlug ihn als Strafe fünf Mal vor den Augen aller, um ihn gut zu erniedrigen. Als der Hausherr zurückkehrte, kam der Jude zu ihm und berichtete von allem, was mit ihm geschah. Der Hausherr wurde sehr wütend, rief den Vertreter und befahl ihm, dem Juden sofort in die Hände tausend Münzen für jeden Schlag zu geben, den dieser ihm erteilt hatte. Der Jude nahm sie und kehrte zu sich nach Hause zurück. Dort fand ihn seine Frau weinend vor. In großer Sorge fragte sie ihn: „Was ist dir mit dem Hausherren zugestoßen?“ Er erzählte es ihr. Dann fragte sie: „Warum weinst du dann?“ Und er antwortete: „Ich weine, weil er mich nur fünf Mal geschlagen hat. Hätte er mich wenigstens zehn Mal geschlagen, hätte ich jetzt zehntausend Münzen.“

109. Nun ist klar zu sehen, dass nachdem dem Menschen die Vergebung der Sünden gegönnt wurde, nachdem die böswilligen Sünden sich für ihn in Verdienste verwandelt haben, es ihm gegönnt wird, mit dem Schöpfer zur zweiten Stufe der Liebe überzugehen. Das bedeutet, dass der Geliebte demjenigen, den er liebt, niemals etwas Böses oder auch nur einen Schatten von Bösem angetan hat, ihm aber dagegen unverändert seit der Geburt großen und herrlichen Segen bringt. Somit erscheinen die Reue aus Liebe und Verwandlung der böswilligen Verstöße in Verdienste als Einheit.

110. Bisher haben wir nur die bedingte (abhängige) Liebe auf ihren zwei Stufen erklärt. Man muss aber immer noch nachvollziehen, wie dem Menschen die Ehre zuteil wird, mit seinem Schöpfer zu den zwei Stadien unabhängiger (nicht an Bedingungen geknüpfter) Liebe zu kommen.

In dieser Frage müssen wir gut verstehen, was geschrieben steht (Kidduschin, 40): „Der Mensch soll sich immer so betrachten, als wäre er halb schuldig, halb im Recht. Vollzog er eine Mizwa, ist das Glück sein, weil er seine Waagschale der Seite der Verdienste zugeneigt hat. Beging er eine Sünde – wehe ihm, weil er seine Waagschale der Seite der Schuld zugeneigt hat. Rabbi Elazar, der Sohn von Rabbi Shimon sagt: „Die ganze Welt wird nach der Mehrheit gerichtet, und das Individuum wird nach der Mehrheit gerichtet. Wenn daher der Mensch eine Mizwa erfüllte, ist das Glück sein, da er sich selbst und die ganze Welt der Seite des Guten zuneigte. Wenn er aber ein Vergehen beging, wehe ihm, da er sich selbst und die ganze Welt der Seite der Schuld zuneigte. Denn wegen einer einzigen von ihm begangenen Sünde ging für ihn selbst und für die ganze Welt ein großer Segen verloren“